Der Umfang und die Qualität der Regelungen zum Überbau durch nachträgliche Wärmedämmung sind in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Die ausführlichste Regelung enthält das Nachbarrechtsgesetz von Baden-Württemberg, die kürzeste, die des Berliner Nachbarrechtsgesetzes. Die Passage, die die Zulässigkeit des Überbaus in dem Berliner Gesetz regelt, enthält ganze 24 Wörter. Die Regelung in Berlin ist am 18.11.2009 vorgeschlagen und am 10.12.2009 im Abgeordnetenhaus ohne Beratung angenommen worden. Das Gesetz ist in großer Eile und ohne Anhörung externer Experten ausgearbeitet und verabschiedet worden.
Die Regelungen in allen bezeichneten Ländern sollen ermöglichen, dass zur nachträglichen Wärmedämmung an bereits bestehenden Gebäuden an der Grundstücksgrenze das Nachbargrundstück genutzt werden darf. Die meisten Nachbarrechtsgesetze gestatten einen Überbau nur dann, wenn die Benutzung des Nachbargrundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt wird. Im Berliner Nachbarrechtsgesetz ist nicht einmal eine derartige Einschränkung vorgesehen. In allen Regelungen wird vorausgesetzt, dass das zu dämmende Gebäude mindestens im Zeitpunkt des Inkrafttretens der entsprechenden Regelung bereits bestanden hat.
Der BGH hat nun erstmals eine Grundsatzentscheidung zur Rechtmäßigkeit des nachträglichen Überbaus durch eine grenzüberschreitende Wärmedämmung für den Fall getroffen, dass das zu dämmende Gebäude bei Inkrafttreten der Regelungen im Nachbarrechtsgesetz bereits bestand, jedoch unter Verstoß gegen die Vorschriften zur Wärmedämmung errichtet worden war.
Dem Urteil vom 02. Juni 2017 (V ZR 196/16) lag ein Fall aus Berlin zugrunde. Hier war in den Jahren 2004/2005 ein Mehrfamilienhaus unmittelbar an der Grenze zu einem Reihenendhaus errichtet worden. Der Neubau stand entlang der Grundstücksgrenze ca. 1,61 m vor der Giebelwand des Nachbarn. Eine Vereinbarung zum Überbau war nicht getroffen worden. Auf der vorstehenden Giebelwand ließ der Bauträger im Jahre 2005 eine Dämmung aufbringen. Diese Dämmung ragte ca. 7 cm in das Nachbargrundstück hinein. Nachdem der Nachbar dies feststellte, forderte er die Beseitigung des Überbaus und untersagte die Fortführung der Bauarbeiten. Der Bauträger nutzte danach jedoch die Abwesenheit des Nachbarn, um die Dämmung anzubringen. Nach der Rückkehr des Nachbarn war die Dämmung aufgebracht, jedoch noch nicht verputzt und nicht gestrichen. Da der Nachbar die weitere Fortführung der Arbeiten nicht duldete und der Bauträger später insolvent wurde, blieb es bei diesem Zustand. Der Nachbar setze die Beseitigung des Überbaus nicht durch, weitere Arbeiten duldete er jedoch nicht. Im Jahre 2011 wandten sich die jetzigen Eigentümer des Mehrfamilienhauses an den Nachbarn und baten diesen um Zustimmung, die Wärmedämmwand verputzen und streichen zu dürfen. Der Überbau wäre damit geringfügig erweitert worden. Dies lehnte der Nachbar ab. Auf eine im Jahr 2013 erhobene Klage hin, verurteilte das Amtsgericht Köpenick den Nachbarn, das Verputzen und Streichen der Wärmeschutzwand zu dulden und drohte ihm für den Fall der Weigerung ein Ordnungsgeld an. Das Amtsgericht war der Auffassung, dass die seit dem 31.12.2009 geltende Regelung des § 16a des Nachbarrechtsgesetzes von Berlin, den Beklagten verpflichten würde, den Überbau zu dulden, da das Gebäude am 31.12.2009 bereits vorhanden war. Er sei damit auch verpflichtet, die Fertigstellung des Überbaus zu dulden. Die Regelung im § 16a lautet: „Der Eigentümer eines Grundstücks hat die Überbauung seines Grundstücks für Zwecke der Wärmedämmung zu dulden, wenn das zu dämmende Gebäude auf dem Nachbargrundstück bereits besteht.“ Das Gericht war der Auffassung, dass diese Regelung ohne Einschränkung für alle bestehenden Gebäude gelte.
Folgte man der Ansicht des Amtsgerichts, wäre der im Jahre 2005 illegal errichtete Überbau, den der Nachbar nicht dulden musste, nunmehr rückwirkend rechtmäßig geworden. Der Nachbar hätte nicht nur diesen Überbau, sondern sogar dessen Fertigstellung dulden müssen. Das Landgericht Berlin folgte in seinem Berufungsurteil der hiesigen Argumentation, dass bereits bei der Errichtung des Gebäudes nach der Energieeinsparverordnung von 2001 (EnEV 2001) eine Wärmedämmung vorgeschrieben war. Das Recht, ein bestehendes Gebäude so zu dämmen, dass dadurch ein Überbau auf das Nachbargrundstück entsteht (hier § 16a Berliner Nachbarrechtsgesetz) besteht nach diesem Urteil nur dann, wenn der Bauherr im Zeitpunkt der Errichtung seines Gebäudes keine Wärmedämmung anbringen musste. In dem zu entscheidenden Fall war bei der Errichtung des Gebäudes eine Wärmedämmung nach der EnEV 2001 bereits zwingend vorgeschrieben. Der Bauherr musste daher bereits bei der Planung und Errichtung des Gebäudes so vorgehen, dass die Wärmedämmung nicht auf das Nachbargrundstück reichte. Der Nachbar muss daher den Überbau nicht dulden. Er muss damit auch dessen Fertigstellung nicht dulden. Das Landgericht hat darauf verweisen, dass der Nachbar auch nicht wegen des nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses zur Duldung des Überbaus verpflichtet ist. Der BGH hat die Revision der Eigentümer des Mehrfamilienhauses zurückgewiesen und das Urteil des Landgerichts Berlin bestätigt. Er hat ausgeführt: „Die Duldungspflicht nach § 16a Abs. 1 NachbG Bln gilt nicht für eine die Grundstücksgrenze überschreitende Wärmedämmung einer Grenzwand, mit der der benachbarte Grundstückseigentümer erstmals die Anforderungen der bei der Errichtung des Gebäudes bereits geltenden Energieeinsparverordnung (EnEV) erfüllt.“ Bei einem solchem Gebäude handelt es sich nicht um ein bestehendes Gebäude im Sinne des Gesetzes.
Der BGH hat festgestellt, dass die Regelungen des Berliner Nachbarrechtsgesetzes zum Überbau durch Wärmedämmung nur dann anwendbar sind, wenn die Wärmedämmung eine nachträgliche Sanierungsmaßnahme darstellt, wenn also die Dämmung bei der Errichtung des Gebäudes noch nicht vorgeschrieben war. Zugleich hat der BGH die Feststellung des Landgerichts Berlin bestätigt, dass eine Verpflichtung, die bereits bei der Errichtung des Gebäudes vorgeschriebene Dämmung anzubringen, nicht aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis abgeleitet werden kann.
Obschon das Urteil des BGH zu der Regelung des Landes Berlin getroffen wurde, hat das Urteil auch für die Rechtslage in anderen Bundesländern Bedeutung, soweit dort Regelungen zum Überbau durch nachträgliche Wärmedämmungen bestehen. Der BGH hat klargestellt, dass eine Rechtfertigung des Überbaus zur nachträglichen Wärmedämmung ausgeschlossen ist, wenn die bei der Errichtung des Gebäudes bestehenden Vorschriften zur Wärmedämmung missachtet werden und eine von vornherein geplante Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks ohne Zustimmung des Nachbarn erfolgen soll, oder wenn der Bauherr durch Nachlässigkeit seinen Bau falsch plant.
Da der Überbau auch nach dem Berliner Nachbarrechtsgesetz unzulässig war, musste der BGH im Juni 2017 nicht mehr entscheiden, ob die betreffende Regelung verfassungsgemäß ist. Die Frage, ob das Berliner Nachbarrechtsgesetz das vom Grundgesetz geschützte Eigentumsrecht ohne Beschränkungen der Duldungspflicht, wie sie etwa im Nachbarrechtsgesetz von Baden-Württemberg vorgesehen sind, einschränken durfte, stand daher weiter im Raum. Offen geblieben ist in dem Urteil vom Juni 2017 zunächst auch, ob die Länder solche Regelungen, überhaupt erlassen dürfen, oder ob der Bund dafür zuständig ist.
In einem weiteren Urteil vom 23.Juni 2022 (V ZR 23/21) hat der BGH Zweifel an der Vereinbarkeit von § 16a des Berliner Nachbarrechtsgesetzes mit Art. 14 Abs. 1 GG (Gewährleistung des Eigentums) geäußert, weil die Regelung von § 16a keine weiteren Voraussetzungen der Duldungspflicht des Nachbarn (etwa nur geringfügige Beeinträchtigung der Benutzung des Grundstücks des zur Duldung verpflichteten Nachbarn u.a.) enthält. Da die Norm keinerlei Einschränkungen des Duldungsanspruchs im Hinblick auf den Umfang der Beeinträchtigung des Nachbarn und die Zumutbarkeit der Überbauung vorsieht, hat der BGH auch die Verhältnismäßigkeit der Regelung für fraglich gehalten. Er hat diese Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das überragende Ziel des Klimaschutzes jedoch (gerade) noch für möglich gehalten. Er hat die Regelung noch für zulässig gehalten.
„Das wirtschaftliche Interesse des Grundstückseigentümers an der Einsparung von Energie durch eine grenzüberschreitende Dämmung seines Bestandsgebäudes wird nicht als solches, sondern deswegen höher gewichtet als das entgegenstehende Interesse des Nachbarn an der vollständigen Nutzung seines Grundstücks‚ weil es sich mit dem - Interesse der Allgemeinheit an der möglichst raschen Dämmung von Bestandsgebäuden deckt. Zwar erscheint dem Senat bedenklich, dass individuelle Interessen des Nachbarn selbst dann keine Berücksichtigung finden, wenn im Einzelfall die Annahme einer Unzumutbarkeit der Duldungsverpflichtung naheläge. Es ist aber nicht zu verkennen, dass der Streit zwischen den Nachbarn über die Frage, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, bei jeder einzelnen Maßnahme zu einer unter Umständen Jahre währenden Verzögerung oder sogar dazu führen kann, dass der Grundstückseigentümer von der Dämmung seines Gebäudes ganz absieht. Der Senat hält es daher für nicht ausgeschlossen, dass der generalisierende Ansatz des Berliner Landesgesetzgebers, den Duldungsanspruch klar und einfach zu regeln, um auf das Ganze gesehen die Durchführung möglichst vieler und rascher Dämmmaßnahmen zu erreichen, noch zulässig ist, auch wenn damit für den jeweiligen Nachbarn im Einzelfall gewisse - unter Umständen auch erhebliche - Härten verbunden sein mögen.“
Der BGH hat zwar an der Verfassungsmäßigkeit von § 16a der Berlinre Nachbarrechtsgesetzes gezweifelt, war aber nicht von deren Verfassungswidrigkeit überzeugt, so dass er keine Entscheidung des BVerfG eingeholt hat.
Eine klare Antwort sieht anders aus.
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